Ein Wermutstropfen und ein Joker für die Börse

Markus Herrmann hat auf verschiedenen Konferenzen einige Top-Manager der deutschen Industrie zum Thema Energiekosten befragt. Zwar soll die politisch angestrebte Begrenzung der Gas- und Ölpreise den Haushalten und Unternehmen in der Winterzeit mehr Sicherheit verschaffen. Die meisten Industriebetriebe lösen das Problem jedoch auf ihre Weise. Das hilft auch dem Aktienmarkt.

Der August verlief überraschend positiv für die Aktienmärkte. Trotz ausgeprägter Konjunktursorgen ging es vor allem für die Kurse deutscher Nebenwerte aufwärts. Etwas überraschend: Rezessionsjahre sind am deutschen Aktienmarkt statistisch gesehen gute Börsenjahre. Die Unternehmen können sich schneller auf ein schlechteres Umfeld einstellen als es sich in den Zahlenwerten der Volkswirte und Analysten ablesen lässt. An den Börsen drehen daher die Kurse im Schnitt 6 bis 9 Monate vor einer Konjunkturerholung. Das war am deutschen Aktienmarkt in jedem Rezessionsjahr seit dem Zweiten Weltkrieg so.

Besonders deutlich war der Effekt 2009, also im Jahr der Finanzkrise. Damals verlor der Markt gemessen am DAX Index zunächst fast 30 Prozent, um dann das Jahr mit einem Gewinn in Höhe von 20 Prozent abzuschließen. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen heute und dem Jahr 2009. Die Finanzkrise betraf naturgemäß vor allem Banken und Versicherungen. Ihre Folgen für die Realwirtschaft konnten die Notenbanken vergleichsweise schnell auffangen. Die Energiekrise von heute betrifft jeden mit Ursachen und Konsequenzen, welche durch geldpolitische Maßnahmen nicht zu lösen sind. In kürzester Zeit sind schwerwiegende Schwachstellen unserer Energieversorgung und der zugehörigen Preisfindungssysteme zutage getreten. Privathaushalte und Betriebe können nur bedingt mit Verhaltensänderungen gegensteuern. Hier muss der Staat vorübergehend eingreifen und auch strukturell nachbessern.

Wie Unternehmen die Lage einschätzen

Markus Herrmann, der Manager des Deutschlandfonds der LOYS AG, hat sich auf verschiedenen Konferenzen mit den Top-Managern deutscher Unternehmen über die aktuellen Herausforderungen ausgetauscht. Nach zahlreichen Gesprächen ist er verhalten optimistisch gestimmt ins Büro zurückgekehrt. Beispielsweise haben Unternehmen der Chemie-Branche einen extremen Sparkurs beim Energieverbrauch eingeschlagen. Überall, wo es möglich ist, wird Gas durch andere Brennstoffe ersetzt. Die sehr energieintensive Produktion im Stahlsektor oder in metallverarbeitenden Betrieben wie Aluminiumhütten wird teilweise heruntergefahren. Wo das nicht geht, verlagert man die Erfüllung von Lieferverpflichtungen in ausländische Produktionsstätten. Was zunächst nach einem sehr negativen Ausblick für die Zukunft klingt, weil niemand eine schnelle Lösung der sanktionsbedingten Versorgungslücke beim Gas erwartet, kann auch positiv gewertet werden.

Viele Unternehmen ergreifen schnell wirkende Maßnahmen, schauen jedoch durch die Krise hindurch. Man geht zwar mehrheitlich davon aus, dass im Lauf des nächsten Jahres neue Versorgungsquellen erschlossen werden können. Jetzt gilt es aber, irgendwie durch den Winter zu kommen. Dazu gehören Einsparungen beim Verbrauch wie auch eine flexible Einteilung der Kapazitäten, die auf die Laufzeiten der eigenen Energieverträge angepasst wird. Denn die Spitzen bei Strom- und Gaspreisen reflektieren zu einem guten Teil tagesaktuelle Spekulationen der Rohstoffhändler. So rasant, wie der Gaspreis an manchen Tagen steigt, fällt er im Einklang mit der Nachrichtenlage auch wieder. Vom August-Rekord bei fast 300 EUR pro Megawattstunde sind aktuelle Notierungen des für Europa richtunggebenden TTF-Terminkontrakts für niederländisches Gas innerhalb von zwei Wochen um ein Drittel gesunken.

Unternehmen schneller als die Politik

Ein Faktor für den Preisrückgang dürften die politischen Entwicklungen in Brüssel sein. Die EU-Kommission ist entschlossen, den Gasverbrauch der Mitgliedstaaten bis zum März 2023 zu begrenzen. Während aber noch um Details zur Ausgestaltung gerungen wird, sind die Unternehmen der Politik einen großen Schritt voraus. Im ersten Halbjahr lag der Verbrauch von Erdgas laut einer Statistik der Bundesnetzagentur deutlich unter dem Niveau des Vorjahres. Die oben beschriebenen Einsparungen zeigen also Wirkung. Diese Entwicklung ist auch ein gutes Beispiel für die Einschätzung, dass die Preisbildung an den Börsen mit mehreren Monaten Vorlauf realwirtschaftliche Veränderungen anzeigen kann.

Ein Wermutstropfen und ein Joker

Privathaushalte oder sehr kleine Unternehmen können sich nicht so schnell auf die schnellen Preisanstiege bei Strom und Heizkosten einstellen. Für sie muss es ein staatlich finanziertes Lösungspaket geben. Damit besteht das Risiko, dass der Staat die Krise ausnutzt, um stärker dirigistisch in Marktabläufe einzugreifen. Erfahrungsgemäß dauert es sehr lange, bis das Vertrauen in freie Märkte zurückkehrt und einmal ergriffene Maßnahmen wieder aufgehoben werden. Langfristiger Verlierer sind zudem die Staatsfinanzen. Als Wermutstropfen kommen zu dem Schuldenberg der Corona-Pandemie die Schulden weiterer Rettungspakete hinzu.

Langfristige Gewinner dieser Situation sind jedoch Anleger, die Positionen in soliden Unternehmen zu niedrigen Kursen aufbauen wollen. Viele Unternehmen haben in dieser Krise einmal mehr ihre Qualität und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Die Bewertungen für deutsche Nebenwerte sind noch außerordentlich günstig. Sie bieten aussichtsreiche Einstiege für echte Investoren. Dabei geht es nicht nur darum, den Winter einigermaßen gut zu überstehen. Es gibt noch einen Joker, der den Börsianern Übergewinne einbringen würde. Sollte der Ukraine-Krieg schneller zuende gehen, als die Märkte es derzeit eingepreist haben, könnten die Aktienkurse so schnell nach oben springen wie sonst der Gaspreisfuture am Handelsplatz TTF.


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